Warum ich Schulgschichtn erzähle | Verena Hohengasser

Ich habe Psychologie studiert, weil ich an Menschen, an Beziehungen und eigentlich an allem Sozialem interessiert bin. Ich wollte zwischenmenschliche Prozesse verstehen, mit und für Menschen arbeiten. Nach dem Studium und einem ersten Einblick in die Praxis der universitären Forschung musste ich mir eingestehen, dass mir der Forschungsalltag zu weit weg war vom Menschen, zu wenig unmittelbar, zu sehr beobachtend, zu wenig teilhabend, verändernd und verbessernd.
Auf der Suche nach Therapie-Ausbildungen, stolperte ich über ein Inserat von Teach for Austria: Bildungsgerechtigkeit. Jedes Kind erreichen. Chancen ermöglichen. Klang gut. Aber Lehrerin werden? Nachdem ich die letzten 7 Jahre in Studium und Kleinkindforschung investiert hatte? Euphorie, Neugier und das „Was solls-Gefühl“ siegten letztlich, ich schlitterte von einer Bewerbungsrunde in die nächste und erlebte keine 5 Montate später meinen zweiten 1. Schultag in einer Wiener Mittelschule im 11. Bezirk. Heute, mehr als 4 Jahre später bin ich Klassenvorstand einer 4. Klasse.

In den vergangenen Jahren traf ich auf Kinder und Jugendliche, die alles zwischen unheimlich motiviert und etwas resigniert sind. Kinder, die dir mit 13 sagen, sie könnten gar nichts. Kinder, die wissen, dass sie in dieser Schule sind, weil in der Volksschule befunden wurde, dass sie für ein Gymnasium nicht gut genug seien. Kinder, denen gesagt wurde, dass sie zu dumm seien, es wo anders zu schaffen. Kinder, die trotz widriger Umstände innerhalb kürzester Zeit Deutsch lernen – für viele die zweite oder sogar dritte Sprache. Kinder, die für ihren Akzent oder ihre Sprachfehler in der Öffentlichkeit oft abschätzig betrachtet, ja mitunter sogar beschimpft werden. Kinder, die Verantwortung für Geschwister übernehmen und in der Schule fehlen, wenn sie die Eltern bei Amtswegen unterstützen müssen. Kindern, denen ich schweren Herzens trotz alledem immer wieder sagen muss, dass es immer noch nicht reicht und dass sie sich noch mehr anstrengen müssen, wenn sie es schaffen wollen.
Und ich bin auf Lehrkräfte gestoßen, die grenzenlos geduldig sind, die gelernt haben vieles mit Humor zu nehmen und sich mit teils enormem Einsatz darum bemühen den Kindern mitzugeben, was sie für ein selbstbestimmtes Leben brauchen.

Medial wird über diese Kinder, Lehrkräfte und Schulen normalerweise hergezogen. Brennpunktschule. Gewaltbereite Kinder. Radikalisierte Jugendliche. Überforderte Lehrkräfte. Kurzgesagt, die Mittelschule sei ein Ort der Aggression, des Kulturkampfes, der Radikalisierung. Sucht man nach vermeintlichen Beweisen, warum Integration nicht gelingt, schaut man gerne in die Mittelschule. Abgesehen davon, schaut aber niemand gerne dort hin. Die Schuld an dem, was in Mittelschulen nicht funktioniert wird in der Regel jenen gegeben, die am wenigsten dafür können. Es wird mit dem Finger auf unsere Schülerinnen und Schüler gezeigt, sie werden zu Schuldigen gemacht für ein System, in dem sie selbst die Leidtragenden sind. Ein System, von dem sie sich nie ausgesucht haben Teil davon zu sein.

Meine Frustration und die Wut über die mediale Darstellung, Beschuldigung und Vereinfachung gipfelte schließlich im Herbst 2018, als ausgelöst durch ein Buch, die NMS (Neue Mittelschule) und ihre Kinder wieder einmal im negativen Rampenlicht darstellte. Plötzlich hatte jede*r eine Meinung und ein Urteil darüber parat, jede*r war Expertin, schließlich haben ja auch alle irgendwann mal selbst eine Schule besucht. Die Behauptungen und Verallgemeinerungen, die in dieser medialen Debatte vorgenommen wurden, wurden dem, was ich täglich in der Schule erlebte nicht einmal ansatzweise gerecht. Glücklicherweise war ich mit dieser Wahrnehmung nicht alleine. „Wir könnten auch ein Buch schreiben, so viele Gschichtn haben wir zu erzählen.“ Aus diesem leicht frustrierten, flapsigen Beitrag in einer WhatsApp Gruppe wurde schnell ein ernstes Vorhaben. Wenn niemand die anderen Geschichten aus der Mittelschule erzählt, dann würden eben wir das machen. Gemeinsam mit meiner Klassenvorstandskollegin Simone Peschek und meinem Kollegen Felix Stadler, der in Schwechat unterrichtete, tüftelten wir schon kurze Zeit später an einer Umsetzung dieses Plans. Dass es kein Buch, sondern ein Blog werden sollte, war schnell klar. Die Idee war es, Platz zu bieten um andere Gschichtn zu erzählen. Gschichtn, die zeigen, was in unseren Schulen gut läuft, was von Kindern und Lehrkräften geleistet wird und womit sie zu kämpfen haben. Erzählen sollten endlich einmal die, über die normalerweise gesprochen wird. Lehrerinnen und Lehrer, Kinder, Eltern und alle anderen, die täglich mit dem System Mittelschule in Berührung kommen. Das sind diejenigen, die wir als echte Expertinnen und Experten verstehen. Das Ziel ist es zu zeigen, wie Mittelschulen wirklich sind. Wir wollen die Erfolgsgeschichten genauso sichtbar machen wie wir auf die Probleme hinweisen und Lösungsvorschläge machen. Der Grundton bleibt dabei konstruktiv, jedoch ohne den Anspruch schön zu reden, was offensichtlich schief läuft.

Unser Wunsch war eine kurze mediale Aufmerksamkeitswelle. Für eine gewisse Zeit wollten wir einen kleinen, aber für uns wesentlichen Teil zur sonst so einseitig geführten Debatte beitragen. Wir wollten die Erzählweise über Mittelschulen erweitern und bereichern. Der tatsächliche und anhaltende, öffentliche Zuspruch und die Unterstützung, die wir seit Start unseres Blogs im Februar 2019 erhalten, hat diese anfänglichen Hoffnungen aber bei weiten übertroffen. Es bestärkt uns in dem was wir tun, weil es zeigt, dass das Bedürfnis nach echten und konstruktiven Geschichten groß ist und, dass nach und nach ein echtes Interesse daran entsteht, genauer hinzusehen.
Den Diskurs über Schule verändern. Das war das oberste Ziel, das wir bereits bei unserem ersten Treffen formuliert haben. Und langsam kommt etwas in Bewegung. Heute bieten wir nicht nur die Plattform für Geschichten und schreiben selbst über Schule, sondern wir nehmen auch an Bildungsdiskussionen teil und werden immer wieder um Statements zu aktuellen Entwicklungen in der Schule gebeten. Es sind also doch vielseitigere Meinungen gefragt.

Unmittelbar, teilhabend, verändernd, verbessernd. Was mir in der universitären Forschung gefehlt hat, das darf ich heute leben.

 

Autor*in: Verena Hohengasser | Psychologin, Lehrerin und Mitgründerin von Schulgschichtn.com

Meinungen und Erfahrungen unserer Kontributor*innen sind ihre eigenen.

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